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Die Krise im E-Commerce 2022 / 2023: Unternehmen in Schieflage und Insolvenzen im D2C-Business

Online-Händlern droht der Bankrott, weil die Verbraucher den Gürtel enger schnallen. Die Nachfrage lässt nach. Kapital aufzutreiben, wird zur Herkulesaufgabe. Vor diesem Hintergrund kämpfen Online-Händler gegen Zahlungsunfähigkeit und Konkurs. Das trifft auch die pandemiebedingten D2C-Senkrechtstarter. Hohe Inflation, sinkende Nachfrage und aufgeblähte Lagerbestände erhöhen den Druck auf Margen und Liquidität.  

E-Commerce und Retail sind eine Branche mit Unternehmen, die nicht alle auf soliden Füßen stehen. Die Konjunkturpakete fallen weg, die Verbraucher kommen durch die Inflation unter Druck. Die Kapitalmärkte fallen zur Refinanzierung aus und die Betriebsmittel sind teuer. Operativ schwächere Akteure bekommen Probleme, auch wenn sie bisher auf einer Welle hoher Nachfrage und eines ruhigen Werbeumfelds ritten.

In der Krise brauchen E-Commerce Unternehmen vor allem Liquidität. Flüssige Mittel stellen sicher: 

  • Anlieferung an Ware durch Lieferanten

  • Abtransport von fertig gepackten Bestellungen durch "Last-Mile-Carrier" 

  • Zahlung der Gehälter und Sozialabgaben für die Mitarbeiter

Branchenanalysten wie Jochen Krisch vertraten die Position, E-Commerce Betreiber sollten, die Boomzeiten nutzen, um ausreichend Kapital für härtere Zeiten einzusammeln.

Und die Recherche zeigt auch: Die Ursachen für Unternehmen in Schieflage sind vor allem unterbrochene Lieferketten und Engpässe in der Liquidität.

Klingel Versandhandel

Insolvenz Klingel Gruppe, Mai 2023

Die Klingel-Gruppe, bekannt für ihren diversifizierten Katalogversand, hat nun offiziell Insolvenz angemeldet. Nach jahrelanger Akquisition von Katalogversendern in Schwierigkeiten, einschließlich Alba Moda aus der Otto-Gruppe und den bekannten Marken Conleys und Impressionen, konnte die finanzielle Belastung nicht mehr getragen werden. Die Muttergesellschaft, K–Mail Order GmbH & Co. KG, hat ein Insolvenzverfahren in Eigenverantwortung eingeleitet.

Auch die Hamburger Tochtergesellschaften, Impressionen Versand GmbH und Schneider GmbH & Co. KG, befinden sich in ähnlichen Verfahren. Die Insolvenz von Klingel und dessen Tochtergesellschaften hat Auswirkungen auf etwa 1.800 Mitarbeiter, die in diesen drei Unternehmen tätig sind.

Als Ursachen für die Insolvenz von Klingel wurden "schwierige Marktbedingungen" genannt. Besonders hervorgehoben wurden dabei die allgemeine Konsumzurückhaltung seit Ausbruch des Ukraine-Krieges, signifikant gestiegene Kosten und hohe Inflation. Weiterhin spielte die hohe Liquiditätsbindung im Warenlager aufgrund von Lieferkettenverzögerungen während der Corona-Pandemie eine bedeutende Rolle bei den finanziellen Schwierigkeiten.

Interessante Einblicke liefert die Pressemitteilung des Insolvenzverwalters. Sie weist auf eine umfangreiche IT Backend-Umstellung hin, die die Gruppe vorgenommen hat. Es wurde eine veraltete Mainframe-Lösung durch eine moderne Systemlandschaft ersetzt. Die LinkedIn-Recherche zeigt, dass externe Berater an diesem Prozess beteiligt waren.

Obwohl Kritiker oft behaupten, dass solche Änderungen hätten später oder gar nicht erfolgen sollen, hebt die Pressemitteilung die Notwendigkeit der IT-Optimierung hervor. Der sogenannte "technical debt" - technische Schulden, die durch überholte oder ineffiziente Systeme entstehen - wird bei bestimmten Veränderungen in Frontend und Kundenansprache so groß, dass eine Aktualisierung unumgänglich ist.

Die Fortsetzung der Optimierung der IT-Prozesse ist daher ein entscheidender Faktor für die Sanierung. Die Insolvenz der Klingel-Gruppe unterstreicht die Notwendigkeit für Unternehmen, ihre IT-Infrastruktur ständig auf dem neuesten Stand zu halten, um wettbewerbsfähig zu bleiben und ihre finanzielle Stabilität zu gewährleisten.

Ahlers AG

Insolvenz Ahlers, Mai 2023

Ahlers, ein bekannter Hersteller von Herrenmode, hat aufgrund drohender Zahlungsprobleme einen Insolvenzantrag gestellt. Dies ist ein weiterer Schlag für die deutsche Modeindustrie, die bereits mit wirtschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen hat. Ahlers hat Insolvenzanträge für das Mutterunternehmen und sieben Tochtergesellschaften beim Amtsgericht Bielefeld eingereicht. Ausländische Unternehmen sind derzeit nicht betroffen.

Als Gründe für diesen Schritt werden die Folgen der Corona-Pandemie, unterbrochene Lieferketten, Kaufzurückhaltung, hohe Inflation und andere Insolvenzen im Handel genannt.

Trotz bekannter Marken wie Baldessarini, Pierre Cardin und Pioneer sank der Umsatz von Ahlers von 207 Millionen Euro vor Corona auf 171 Millionen Euro im Geschäftsjahr 2021/22. Rund 1.700 Mitarbeiter arbeiten derzeit bei Ahlers, wovon 400 in den betroffenen Unternehmen tätig sind.

Wayfair 

Die meiste Zeit seines Bestehens hat Wayfair Verluste eingefahren. Die Corona-Boomjahre waren eine Ausnahme. Im Jahr 2020 erwirtschaftete Wayfair einen Betriebsgewinn von mehr als 360 Millionen US-Dollar. 

Im August 2022 musste dann Wayfair 5% aller Arbeitsplätze streichen. Allein im zweiten Quartal 2022 hatte das Unternehmen ein Umsatzminus von 15 Prozent im Vorjahresvergleich. International betrug das Minus sogar 35 Prozent. 

Wenngleich die Verluste begrenzt werden konnten im Q3/2022, gingen sie doch weiter: Der Nettoumsatz in den Vereinigten Staaten sank im Vergleich zum Vorjahr um 6% auf 2,4 Mrd. $. Auch der internationale Nettoumsatz ging im Vergleich zum Vorjahresquartal um 24% auf 0,4 Mrd. USD zurück. Bei konstanten Wechselkursen betrug das Wachstum des internationalen Nettoumsatzes minus 22,6 %. 

Auch bei den aktiven Kunden gab es einen Rücksetzer im Vergleich zum Vorjahr um 22,6% auf 22,6 Millionen. Wayfair verzeichnete im Berichtsquartal einen Betriebsverlust von 372 Millionen US-Dollar, verglichen mit einem Betriebsverlust von 70 Millionen US-Dollar im Vorjahresquartal.

Für die Analysten ist Wayfairs Weg zur Profitabilität von zentraler Bedeutung, nachdem das Unternehmen während der Pandemie plötzlich profitabel wurde und in den letzten Quartalen wieder in die Verlustzone gerutscht ist. 

Keller Sports 

Keller Sports Insolvenz, Dezember 2022 - Einstellung Geschäftsbetrieb März 2023

Auch der einstige Senkrechtstarter der deutschen E-Commerce-Szene ist seit Dezember 2022 insolvent: Keller Sports. Die Gründer-Brüder Moritz und Jakob Keller stampften über die Jahre massig Initiativen aus dem Boden, vom eigenentwickelten Shopsystem und Order-Management-System über ein Dutzend Länder-Shops bis zu Fitnessstudio-Vermittler und Loyalty-Programm Smiles. Die Sanierung soll in Eigenverwaltung erfolgen. Offenbar waren die Zahlen trotz Heimtraining-Boom auch in Coronazeiten nicht rosig, wie mehrere Quellen berichten.     

Windeln.de 

Windeln.de ist in der E-Commerce-Szene seit Jahren als Problem- und Sanierungsfall bekannt. Hier lohnt z.B. eine Recherche der Artikel bei Exciting Commerce. Der Dauerbrenner in den Headlines ist “Windeln.de als Sanierungsfall, schlägt seine letzten Aktionäre in die Flucht, bricht auf 82 Mio € ein, muss bei der Kapitalbeschaffung tricksen” usw. 

Windeln.de hatte in den letzten Jahren vor allem noch das China Geschäft als Stütze, nicht zuletzt aufgrund des Milchpulver-Skandals dort konnten Unternehmen aus Europa dort mit hohem Trust punkten. 

Surf4Shoes

Mehrheitsgesellschafter bei der Online-Plattform war die HR Group, die wiederum bis Oktober 2022 Reno besaß, der als Systemgroßhändler einer der größten Anbieter für Schuhe in Europa ist. Surf4Shoes war nach eigenen Angaben auf Schuhe im mittleren Preissegment spezialisiert. Der letzte Jahresumsatz soll bei 30 Mio Euro gelegen haben. Die Bewertungen zur operativen Abwicklung auf einschlägigen Bewertungsportalen war schon im Vorfeld stark abgefallen.

Die HR Group zieht sich somit aus dem klassischen Handel zurück und fokussiert auf Logistik und Systemlösungen für den Handel. 

Missguided 

Das britische Fast Fashion Online-Unternehmen musste im Mai 2022 Insolvenz anmelden. Der Einzelhandelskonzern Frasers Group hat Missguided aus der Insolvenz für ca. 24 Mio Euro übernommen.

Missguided war wegen Lieferkettenproblemen, Kostenexplosion und sinkender Nachfrage in Schieflage geraten. Gründerin und CEO Nitin Passi trat erst zurück und wurde zwischenzeitlich von Frasers wieder an Bord geholt. 

Made.com 

Erst wurden keine Bestellungen mehr angenommen, dann hat Made.com doch die Insolvenz angemeldet. 

Ähnlich wie Wayfair, Westwing & Co ist auch Made.com von der besonderen Schwäche des Home & Living Segments betroffen. Auch im Operating Model lagen besondere Herausforderungen, die letztendlich die Insolvenz beschleunigt haben. Der frühe Erfolg des Unternehmens beruhte auf einem Just-in-Time-Modell, bei dem die Ware erst nach der Bestellung von den Herstellern geliefert wurden. Anstatt Marktmacht aufzubauen und nur mit einer Handvoll Lieferanten zu arbeiten, arbeitete das Unternehmen mit mehr als 200 Fabriken zusammen. Aber dieses Modell führte dazu, dass die Hersteller Made.com keine Priorität einräumten, als die Pandemie eintrat und die Lieferkette massiv unterbrochen wurde. In jüngster Zeit hat Made.com seinen Kurs geändert und massiv Geldmittel gebunden, um sicherzustellen, dass seine Lager gut bestückt sind. Aber der Zeitpunkt war falsch, denn die Verbraucherinnen und Verbraucher sparten, als die Lebenshaltungskostenkrise einsetzte.

Made.com war schon auf der Suche nach Investoren und Rettern und wurde direkt nach Insolvenzanmeldung von Next akquiriert. Next wird ab 2023 den Geschäftsbetrieb fortführen. Über 500 Jobs gingen verloren und viele Kunden mussten ihre vorbestellte Ware und bereits angezahltes Geld abschreiben. Den Meldungen zufolge wird Next aber nicht den gesamten Geschäftsbetrieb weiter führen, sondern vor allem Brand und Frontends übernehmen. 

Watchmaster

Eine Insolvenz der dramatischen Art für den Online-Uhrenhändler. Bei einem Überfall wurden die Hälfte der gelagerten Uhren in einem Gesamtwert von schätzungsweise 10 Mio EUR gestohlen. Watchmaster war zwar versichert, hat aber nur den Einkaufswert der Uhren zurückerhalten. Die zwischenzeitlichen Invests in Marketing etc. waren aber deutlich höher, sodass das Unternehmen Insolvenz anmelden musste.  

Waschbär Versand

Der Online-Shop für nachhaltige und sozial verträgliche Produkte streicht 40 Stellen in der Verwaltung aufgrund stark einbrechender Nachfrage durch Krieg, Inflation und Energiepreise. Außerdem wird ein Ladengeschäfts in Karlsruhe Anfang 2023 geschlossen. Neuhandeln schreibt dazu: „Dieser Stellenabbau sei jetzt nötig, um die Ausgaben an den Umsatz anzupassen und um den Fortbestand des Versandhändlers aus Freiburg nicht zu gefährden.”